„Wenn du lange in einen Abgrund blickst,
blickt der Abgrund auch in dich hinein.“
Friedrich Nietzsche
Jeder, der schon einmal vor einem Lebensabgrund stand oder dort von anderen (Eltern, Lehrern, Fremden, Betreuern, Freunde, Verwandte…) hingestellt wurde, weiß, dass es ohne das innerliche Vorbereiten eher von negativer Natur ist, dort zu verweilen. Zuerst herrscht die gewaltige Starre, die uns davor beschützen soll, tief in den Abgrund zu stürzen. Doch werden wir im Verlauf unseres folgenden Lebens aus diesem Muster agieren und immer und immer wieder gleiche, ähnliche „abgrundtiefe“ Erfahrungen machen. Irgendwann kommen wir dann an den Punkt, dass wir uns selbst hinterfragen, uns und unser Leben. Es entstehen Fragen, warum mein Leben ausgerechnet so läuft, warum ist ausgerechnet mir das alles passiert und viele andere kritische und zweiflerische Gedankengänge, die unser momentanes Leben zerdrücken und ihm jegliche Atemluft zur Entfaltung nehmen…
Doch ist es nicht klar, dass mich die Dinge beeinflussen/ ein Teil von mir werden, die mich umgeben? Stehe ich nicht im engen Kontakt zu allem, was mich umgibt? Ist es dabei nicht egal, ob ich das will oder nicht? Tatsache bleibt, dass dieser Abgrund, welcher Natur auch immer er ist, stets auch Spuren in mir und meinem Leben hinterlässt.
Das Härteste für mich war die Erkenntnis, dass es so ist. Da bin ich so, wie ich bin, weil ich als Kind und als Jugendliche eine ganz persönliche Lebensgeschichte durchlaufen musste. Diese war in totaler Abhängigkeit von den Menschen, die mich da umgaben. Ich hatte keine Wahl. Entweder folge ich den Mustern und den Erwartungen, die an mich gestellt wurden oder ich erlebe Gegenwehr, Kleinmacherei, Ablehnung, Abwertung und einen noch viel größeren Entzug von emotionaler Nähe und Aufmerksamkeit und echter/ authentischer Wertschätzung. Was ist, wenn du Eltern hast, die nicht in der Lage sind, dich auf das Leben vorzubereiten? Was ist, wenn deine Eltern dich nicht sehen, dich nicht erkennen können? Wie sollen diese in dieser Situation angemessen auf dich eingehen, wenn sie die Norm von dir erwarten, aber selbst keinerlei Norm entsprechen? Wie kann ich jemanden begleiten, wenn ich diesen nicht so wahrnehme, wie er ist?
Da entsteht automatisch der erste und vor allem auch sehr prägende Lebensabgrund. Ich konnte mich nicht wehren oder es ändern. Er ist da – der Abgrund.
Nun übernehme ich als Kind die Lebenswelt meiner Eltern. Ich erlerne Verhaltensweisen wie sie. Ich gehe mit anderen um, wie sie es mir beigebracht haben, wie sie zu mir waren. Ich schreibe mir den Wert zu, den sie mir durch ihr Verhalten aufgebürdet haben. usw. Den Abgrund, den meine Eltern für mich formten, absorbiere ich als Kind und forme ihn zu meiner Lebenswelt, ohne zu begreifen, dass diese Lebenswelt bedrohlich und gefährlich ist. Ich stehe vor einem Abgrund und die Angst, hineingezogen zu werden, wenn ich den schmalen, vorhandenen Grat verlasse, lähmt mich und hält mich in ihm gefangen. Die erstarrende Angst ist riesig und lässt mich meine Augen nicht von ihm heben können. Mein Kopf lässt sich nicht drehen, denn dort stehen meine Eltern – rechts, links, hinter mir, über mir – und halten mich durch ihren Blick, durch ihre Einstellung in einem engen Korsett…
Nach einer gefühlten Ewigkeit der Erstarrung und Pflichterfüllung und versuchtem Aufbegehren…
Nun stehe ich hier und stelle fest, dass meine Eltern gar nicht hier sind. Ich stehe alleine, keiner ist mehr da und ich lass mich immer noch von diesem Abgrund bannen. Ich habe es so gelernt. Pass auf oder du fällst! Nimm dich in Acht vor dem Abgrund! Erfülle die Erwartungen und du stehst! Dieses Druckgespenst presst mich an den Abgrund… Da sind sie nun, die lebensbedrohlichen Einstellungen, die nichts mit mir und meinem Wesen zu tun haben. Doch sie sind drohend, einengend, fordernd und voller Angst erzeugender Gedanken… Er lässt mich scheitern. Er lässt mich resignieren.
Dieser Abgrund, der sich drohend über mich zusammen braut, sich aufbäumt und mich in seinem Druck auf den Boden schmeißt. Mein Körper schmerzt, meine Seele droht, zu zerspringen. Ich breche zusammen und liege da… am/ um/ im Abgrund, der mich mittlerweile fast völlig in seiner Gewalt hat. Nichts geht mehr. Da bemerke ich, dass da, wie ich da ohne Regung/ ohne Kraft liege, etwas anders ist als sonst… Was ist das?
Ich habe unter der Last der falschen/ schädigenden Druckgespenster nachgegeben. Ich habe den gewohnten Pfad verlassen.
Ich liege…
Ich blicke in den Himmel…
Ich spüre meinen Körper, diese innere Ruhe…
Plötzlich kann ich den Abgrund nicht mehr sehen. Ich spüre einen Anflug von Frieden in mir. Der Himmel offenbart ein wunderschönes Blau, auf dem Wolken ihre Bahnen ziehen. Nichts passiert. Der Abgrund saugt nicht an mir. Der Abgrund zieht mich nicht runter. Er ist nur noch da – neben mir – meine Hand kann ihn ertasten, wie es steil neben mir herab geht.
Ich richte mich auf und blicke das erste mal in meinem Leben – allein – in eine andere Richtung. Vor dem Abgrund – hinter meinem Rücken – ist eine andere Welt. Eine lebensfreundliche Welt, wie sie mir so scheint… Nun richte ich mich langsam auf und gehe auf diese neue Lebenswelt zu. Da ist es diese euphorische Freude über den Erfolg. WOW, geschafft, du bist frei… 🙂 …
Doch dann – in meiner neuen Lebenswelt – muss ich bitter feststellen: Der Abgrund lebt – ist da – er lebt in mir. Bei jeder neuen Wegstrecke drehe ich mich um, versuche auf Türme zu steigen, um mit Skepsis den Schauplatz abzustecken, ob nicht irgendwo still und heimlich der nächste Abgrund lauert. Mich zu packen – doch zu verschlucken – Angst! Da ist sie wieder. Kein Abgrund weit und breit und doch bestimmt mich dieser weiterhin… Ist die Freiheit doch nur eine Illusion?
ICH WILL DAS NICHT!!! ICH WILL DAS LEBEN UM MICH HERUM GENIEßEN UND LEBEN KÖNNEN!
HALT! STOPP!
Abgrund – du Teil von mir – bitte lass mich in Ruhe. Ich bin weit weg von dir und ich lebe nun ein anderes Leben. Sei nur noch mein Begleiter und melde dich, wenn ich vor dir stehe. Zeige mir, wenn ich wieder in diese Muster rutsche, die mir als Kind halfen, um zu überleben. Doch nun bin ich erwachsen, bin umgezogen und ich lerne täglich Neues, wie das Leben ohne Dauerangst ist. Wie ein bestätigendes Leben – meine Lebensintegrität – sich anfühlt, wenn ich ich bin und mich durch mein Handeln in meinem Sein fühlen darf. FRIEDEN… RUHE…
Ich darf entscheiden, wohin ich gehe, wann ich es tue, wie ich es tue, warum ich es tue… ICH darf frei entscheiden, welche Konsequenzen ich leben will. Meine Entscheidungen bringen meinen Weg. Ich gehe nun meinen Weg. Manchmal ist der Abgrund noch sehr aktiv und wirft seine Verlockungen der Gewohnheit aus, doch schon oft – in meinem Leben – kann ich ihn anlächeln und sagen, DANKE, dass du da warst und mich das Fürchten gelehrt hast. Ich möchte auf mich achten, dass ich in mir – bei mir – meine Mitte trage und den Atem spüre, der voll in meine Lungen gezogen wird und mich entspannt. Tiefe Atemzüge – in der Mitte meines Lebens – in Ruhe. Freiheit meiner Entscheidungen, die mich befähigen, das Leben spüren zu können. Das Leben in all seinen Facetten, in seinem pulsierendem Verlauf. Denn auch so schwach ich mich allein vor dem Abgrund gefühlt habe, so stark hat er mich gemacht. Stark – nun – meine Entscheidungen fällen zu können, nachdem ich die Konsequenzen abgewogen habe. Die bewusste Entscheidung für das, was möglich ist – mein Leben – meine persönliche Freiheit, das tun zu dürfen. AUCH in dem Wissen und Gefühl, dass der Abgrund immer bei mir sein wird, denn es leben Anteile in mir, die nie von ihm abgehen werden. Doch diese sind mittlerweile oft nur noch stille Teilhaber, denn ich bin NICHT meine Mutter, ich bin NICHT mein Vater, ich bin NICHT meine Verwandten, ich bin NICHT… etc. …
ICH bin ICH und ich DARF mein Leben leben und was mir schadet, darf ich aus meinem Leben streichen und was mich im Frieden hält, darf ich kultivieren. WEIL ICH ES SO WILL!
ICH BIN NICHT DAS OPFER MEINES ABGRUNDES!
ICH BIN DER MENSCH, der sich befreit hat.
ICH BIN DER MENSCH, der neue Wege ausprobiert.
ICH BIN DER MENSCH, der dort neue Wurzeln schlagen wird, wo ich meinen, inneren Frieden fühle.
ICH BIN DER MENSCH, der die Kraft hat, Gewohnheiten zu brechen und mein Leben zu spüren – MEIN LEBEN zu LEBEN!
IM PRINZIP VERANTWORTUNG IM RESPEKT ZU MIR UND GEGENÜBER DEN WESEN/ MENSCHEN, DIE MICH UMGEBEN, achte ich auf mein Verhalten und wäge sorgfältig ab, so dass niemand wegen mir längerfristig aus seiner Mitte gerissen wird! Doch ziehe ich eine Grenze, wenn das ein anderer mit mir macht. Ich möchte nicht mehr wegen einem anderen Leiden, dass er zufrieden ist und seine Macht/ seinen Sadismus an mir ausleben kann. Denn da lebt er/ sie gut und ich stehe gefroren vor dem Abgrund… auch wenn er/ sie es nicht sieht oder fühlt. Das lass ich nicht mehr zu, da ich nun meinen Weg gehe und der beinhaltet Liebe! ❤
(C) Harley Hammer-Quin
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